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Prof. Jürgen Kussmaul

Viola

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Jürgen Kussmaul, Jahrgang 1944 und einer der bekanntesten und begehrtesten Bratschisten, hat als Solobratscher in verschiedenen Orchestern gespielt. Als anerkannter Kammermusiker war er zudem in mehreren Streichquartetten tätig. Jürgen Kussmaul hat zahlreiche Aufnahmen eingespielt und war – nach einem ersten Vertrag als Dozent am Königlichen Konservatorium in Den Haag – von 1979 bis 2017 Professor für Viola und Kammermusik an der Robert-Schumann-Musikhochschule in Düsseldorf.

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Im Interview mit Sophia Klinke

Gespräch vom 26. März 2024

Wie beschreiben Sie Ihre Händigkeit?


Das kann ich gar nicht so leicht beantworten, da ich durch eine Verletzung im Kindesalter mehrere Finger an der linken Hand verlor und daher in gewisser Weise immer etwas gehandicapt war.
Im Alter von sechs Jahren war ich mit meiner Familie im Odenwald zum Urlaub machen und die ganze Zeit mit den Bauern unterwegs bei den Kühen und der Futterzubereitung. Ich machte den Fehler, noch etwas aus der Häckselmaschine herausziehen zu wollen. Da passierte der Unfall und ich verlor Ringfinger und kleinen Finger meiner linken Hand.

 


Haben Sie Ihre Instrumente dann von Anfang an „linksrum“ gelernt?


Nein. Mit vier Jahren begann ich das Geigenspiel rechtsherum.
Zwei Jahre darauf passierte der Unfall und ein halbes Jahr später erzählte mein Vater von einem berühmten Quartett aus den USA, das einen linksspielenden Geiger hatte: Rudolf Kolisch, der Schwiegersohn Arnold Schönbergs. Aufgrund einer Verletzung spielte er linksherum.
Daraufhin spannte mein Vater die Saiten meiner damaligen Geige um, und um den Bogen mit der linken Hand und mit nur drei Fingern – Daumen, Zeige- und Mittelfinger – halten zu können, befestigte er am Bogen eine Stütze.
Meine Bogenhand musste ich generell etwas gewölbter halten, aber letztendlich hatte ich keine bogentechnischen Probleme; auch nicht beim Staccato- und Spiccatospiel.

 


Bitte erzählen Sie uns mehr über die damalige Herangehensweise und den Umlernprozess. Was waren für Sie die größten Herausforderungen?


Erstmal keine. Ich hab's einfach gemacht und musste mich natürlich auch ein bisschen anstrengen, da ich ja noch gewohnt war, wie ich eigentlich (also rechtsherum) gespielt hatte. Dadurch, dass mein eineinhalb Jahre jüngerer Bruder Rainer zeitgleich zu meinem Umlernen das Geigenspiel begann, war ich aber nicht so alleine.
Unser Vater, Solobratschist im Nationaltheater Mannheim, saß in der Mitte und übte mit uns Brüdern, die sich gegenüberstanden.
Jeden Tag spielten wir als Familie Musik zusammen.
Übrigens war ich bis zu meinem 16. Lebensjahr auch leidenschaftlicher Fußballtorwart und mein Bruder Rainer Mittelfeldspieler. Um die Kraft meiner linken Hand zu trainieren, hat mein Torwartsein sehr geholfen.
Mein Vater sagte zu mir, ich sei besonders begabt im Hören aller Stimmen. Daher sei die Bratsche das geeignetere Instrument für mich.

 


In welchem Alter sind Sie auf die Bratsche umgestiegen?


Mit elf Jahren. Bevor ich auf die Bratsche umstieg, musste ich allerdings noch das Violinkonzert Nr. 22 von Viotti lernen, denn mein Vater sagte: „Ein Bratschist ohne Technik hat keine rechte Zukunft“. Ich hatte also vor meinem Umstieg auf die Bratsche schon ein hohes technisches Niveau erreicht.
 


Gab es von irgendeiner Seite Vorbehalte bezüglich des Linksspielens?


Nein. Ich hatte nie das Gefühl, dass jemand mich auf mein Linksspielen ansprach. In der Nachkriegszeit war dies auch nicht so ungewöhnlich, da gab es viele Verletzte. Zum Beispiel einen ehemaligen Geiger des Nationaltheaters Mannheim, der aufgrund seiner Verletzung von Geige auf Horn wechselte.
Mein Bruder Rainer und ich wurden zu einem wirklich eingespielten Team. Hätte man uns jeweils vor verschiedene Wände gestellt ohne jeglichen Blickkontakt: Wir hätten trotzdem zusammen zu spielen begonnen. Wenn man als Kinder schon so intensiv Kammermusik macht, liegt das im Blut.

 


Bitte erzählen Sie uns von Ihrem musikalischen Werdegang.


Meine erste Stelle als Solobratschist hatte ich 1963 im Alter von 18 Jahren am Theater Heidelberg erhalten und die war ein Glücksfall – einfach eine ganz tolle Zeit. Die war sehr persönlich.
Zwischendurch trat ich mit meinem Bruder bei den sogenannten „Konzerten junger Künstler“ auf, wo wir als Ensemble aufgenommen und von vielen Veranstaltern engagiert wurden. 1966 spielten wir 30, 40 Konzerte im Jahr.
Irgendwann war für mich jedoch die Zeit gekommen, Heidelberg zu verlassen, obwohl es ein sehr liebevolles, seriöses Orchester war, wie man es sich wünscht. Ein Kollege sagte: „Herr Kussmaul, Sie verlassen eine Lebensstellung!“ Aber wenn man weiter muss, muss man weiter.
1968 wollte ich nochmal für mich weiterstudieren, war freischaffend unterwegs und konnte sehr gut davon leben. Ich wurde Mitglied des Kölner Streichquartetts, dessen Geiger die Konzertmeister des WDR- und Gürzenich-Orchesters waren. Es war die Zeit der vielen Kammermusik.
Durch meine Quartettkollegen wurde ich oft als Aushilfe ins Gürzenich-Orchester eingeladen, wo wir auch im Operngraben spielten. 1970 wurde dort die Stelle des Solobratschers frei und der damalige Chefdirigent Günter Wand lud mich persönlich zum Probespiel ein.
Tatsächlich gewann ich die Stelle bei 25 Mitstreitern, wovon ich nicht ausgegangen war. Umso mehr freute ich mich darüber.
Nach dem gewonnenen Probespiel sollte ich aber dennoch einmal im Orchestergraben probesitzen, damit geschaut werden konnte, ob das platzmäßig auf die Dauer gehen würde. Mein Linksspielen wurde auch dort als ganz normal akzeptiert. Kein Mensch sprach mich groß darauf an – schon gar nicht Günter Wand. Ihm habe ich vieles zu verdanken. Er war wie ein Ziehvater für mich und ich war oft bei ihm zu Hause zu Gast.

 

Welche Bedeutung hat für Sie der Bogenarm beim Bratschespielen?


Im Bogenarm liegt die Seele. Der Bogen ist es, der uns überhaupt befähigt, Musik auszudrücken.
Der Bogen bin ich. Das andere – die Greifhand – ist, was ich tue. Wer die Bogenhand hinbekommt, bekommt auch die Greifhand hin.
Wenn jemand wirklich auf die Bogenhand und ihre Techniken achtet, wird er in jedem Fall ein guter Spieler.


Wichtig zu wissen ist: In dem Moment, wo man statisch ist, wird die Energie blockiert. Leben heißt Bewegung, Bewegung, Bewegung!
Es geht nicht um Druck, sondern es geht um Schwingung. Zwar wird der Klang durch einen gewissen Druck erstmal auch laut, aber die Schwingung muss mitgefühlt werden und eine gezielte Geschwindigkeit gehört ebenfalls unabdingbar dazu.


Wenn ich Gewicht in meine Fußsohlen bringe, kann ich in meinen Armen leicht sein. Das war mir irgendwann so klar geworden.
Der langsame Satz des C-Dur-Quintetts von Schubert dauert sehr lange und das bogentechnisch souverän zu meistern, fällt vielen schwer. Als ich das Werk einmal spielte und bemerkte, dass meine Kollegin an der zweiten Geige schon einen ganz roten Kopf bekam, wurde mir nochmal bewusst wie wichtig es ist, das Gewicht nach unten zu lenken.
Wenn ich bei meinen Studenten bemerkte, dass mit dem Strich etwas nicht stimmte, haben wir das in der Regel ganz schnell hinbekommen. Natürlich dauert es dennoch viele Jahre bis die Technik wirklich ausgefeilt ist, aber da man immer dranblieb und um meine Unterstützung wusste, verzweifelte niemand daran.


Als ich noch Schüler meines Vaters war, fragte er mich im Unterricht oft: „Gefällt dir das, was du gerade spielst, auch so?“
Ich hatte ja eine musikalische Klangvorstellung und wenn mir etwas technisch noch nicht klar war, fand ich zusammen mit der Klangvorstellung und meinem technischen Wissen mit der Zeit immer heraus, wie es zu gehen hatte. Später beim Unterrichten konnte ich das im Lauf der Zeit auch alles artikulieren – oftmals ergänzt mit Worten aus dem Bereich der Weisheitslehre.

Natürlich hatte ich auch den Wunsch, eine „schöne“ Hand zu haben – manchmal habe ich mein eigenes Bild nicht ertragen können. Auch vor einem Besuch der Tanzschule hatte ich deswegen Angst und so habe ich lieber die Tanzmusik auf der Bratsche gespielt.

 


Woher hatten Sie Ihre linken Instrumente?


Meine erste Geige erhielt ich von einem Musiker, dessen Urenkel mein Vater unterrichtete. Das Instrument ging über die Grenze und war schon umgebaut. Später folgte dann die Bratsche – eine einfache Bratsche meines Vaters, auf der nur Saiten und Steg umgesetzt waren.
Durch den Kontakt zu einem Mannheimer Geigenbauer wurde mir meine erste original auf links angefertigte Bratsche gebaut. Und später nach der Wende wurden mir in Erfurt bei Wilhelm Brückner zwei Linkshänderbratschen gebaut, die ideal waren und genau meiner Vorstellung entsprachen.
Irgendwann hatte ich sieben Linkshänderbratschen, von denen ich allerdings nach und nach einige wieder auf rechts zurückbauen ließ und zum Teil an meine Studenten weitervermittlete, sodass ich die Instrumente in guten Händen wusste. Die Geigenbauer waren immer begeistert, so etwas machen zu können.

 

Jürgen Kussmaul, Linksbratscher spielt die Viola  mit dem Bogen in der linken Hand

Welche kuriosen Erlebnisse hatten Sie schon mit Ihrem Linksspielen?


Nach einem Konzert kam einmal ein Veranstalter zu mir und sagte: „Herr Kussmaul, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Als das Konzert begann und ich Sie spielen sah, da dachte ich „Um Gottes Willen, das wird nichts...“ Aber kurz darauf verschwand die Irritation und ich erlebte, wie musikalisch Sie und Ihr Bruder miteinander spielten.“
Und einmal sollte ich für eine Musikschule in Frankreich ein Gutachten schreiben, weil dort damals niemand linkshändig spielen durfte. Es gab aber ein Kind, das aufgrund einer Verletzung das Geigenspiel nur linksherum hätte erlernen können und das unbedingt wollte. Dank meines Schreibens hat es auch geklappt.

 


Gab es negative Reaktionen auf Ihre Spielweise?


Nie auf mein musikalisches Spiel.
Während meiner freischaffenden Zeit ab 1968 wollte ich irgendwann dann aber doch wieder eine Orchesterstelle haben.
So bewarb ich mich in einem Radiosinfonieorchester. Nach dem Probespiel bat mich der Chefdirigent, ein paar Schritte mit ihm zu gehen und sagte, ich sei ein sehr guter Bratschist, aber er könne mich aufgrund der vielen Fernsehübetragungen nicht aufnehmen: Meine Art zu spielen würde angeblich das Bild stören. Das hatte mich tief erschüttert und während der ganzen Autofahrt zurück nach Köln weinte ich.
Kurz darauf wurde ich dann aber Solobratscher im Gürzenich-Orchester Köln unter Günter Wand, wie ich zuvor erzählt habe, und das war meine Stelle. Auch zu meinen Studenten habe ich immer gesagt: „Jeder hat seinen Platz. Du kannst dir zwar alles mögliche vorstellen, aber du hast einen Platz und der entsteht für dich.“

 


In einer SWR-Sendung erzählten Sie, dass es schwierig war, linkshändige Kinnhalter und Schulterstützen zu finden.


Ja! Mit 70(!) Jahren hatte ich endlich einen ordentlichen Kinnhalter aus Kanada bekommen. Zwar konnte ich immer irgendwie spielen und habe versucht, mir mit anderen Utensilien zu behelfen, aber schöner wäre es auf jeden Fall gewesen, zu Berufszeiten an einen solchen Kinnhalter gekommen zu sein. Ich weiß noch, dass ich einmal auf eine Firma zuging und anfragte, fünf Kinnhalter für mich anzufertigen, aber es hätte sich für die nicht rentiert, wurde mir gesagt.
 


Wie kam es zu Ihrer Professur in Düsseldorf?


Meine Stelle im Gürzenich-Orchester hatte ich gekündigt und auch Günter Wand wurde pensioniert. So war ich erst einmal wieder eine zeitlang mit meinem Quartett in Köln sehr beschäftigt, auch mit Radioaufnahmen.
Zuerst bekam ich dann einen Lehrauftrag in Den Haag, der aber viel Pendelei mit sich brachte. Kurz darauf wurde eine Professur an der Musikhochschule Düsseldorf frei, für die ich angefragt wurde und die ich mit großer Freude annahm.
Das war 1979 und Düsseldorf wurde zu meiner Stadt – auch im städtischen Kulturamt war ich tätig. Ich hatte offene Türen und gründete ein Kammerorchester, das viele Konzerte gab.
In der Schule wollte ich immer Lehrer werden und war für Gruppen da – genau wie als Torwart beim Fußball. Und schlussendlich wurde ich zum Professor ernannt. Das empfinde ich als großes Lebensgeschenk.

Jürgen Kussmaul, Linkshänder-Bratsche

Fotos: privat

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