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AutorenbildChris Seed

Das Linkshänderklavier: »Wenn ich meine Augen schloss, spielte ich plötzlich spiegelverkehrt«

Das Linkshänderklavier befreit meinen Geist, die Klänge verwandeln sich in völlig neue Farben und die Töne tanzen mit einer nicht gekannten Virtuosität im Raum. Ich habe neue emotionale und spirituelle Erlebnisse erschaffen und fühle mich mit dem Klavier mehr verbunden.


Pianist Christopher Seed zwischen einem Rechtshänder- und einem Linkshänderflügel

Ich mache die meisten Dinge mit links, z. B. Briefe schreiben, einen Ball werfen oder den Löffel halten. Wenn ich spreche, stützt die linke Hand meine Stimme mit Gesten. Es scheint, als würde ich durch meine linke Seite denken und atmen. Mein linker Fuß lacht über meinen rechten, der keinen Ball kicken kann, und mein linkes Auge bestimmt, wohin ich schaue. Wo meine linke Seite hinführt, folgt meine rechte.


Ich denke, dass das Bewusstsein für die Benachteiligung von Linkshändigen in der Gesellschaft immer noch nicht ausreichend vorhanden ist, aber natürlich haben sich die Dinge geändert – die Zeiten, in denen Linkshändigkeit als verflucht galt, sind längst vorbei! Wir werden von der Gesellschaft nicht mehr so sehr für unsere Ungeschicklichkeit belächelt oder für den Versuch, mit der ›falschen‹ Hand zu schreiben, geschlagen. Aber wir mussten uns entweder an eine rechtshändige Welt anpassen oder die Welt so verändern, dass sie unseren Bedürfnissen entspricht.


Genau das ist es, was ich beim Klavier gemacht habe, indem ich ein spiegelbildliches Instrument anfertigen ließ, bei dem meine dominante und geschicktere linke Hand den Großteil der melodischen Linien übernehmen kann. Aber das ist noch nicht alles: Für mich ist es nicht nur ein physischer Vorteil, auf der gespiegelten Tastatur zu spielen. Das Linkshänderklavier befreit meinen Geist, die Klänge verwandeln sich in völlig neuartige Farben und die Töne tanzen mit einer nicht gekannten Virtuosität im Raum. Ich habe neue emotionale und spirituelle Erlebnisse erschaffen und fühle mich mit dem Klavier mehr verbunden. Es ist noch nicht genügend erforscht worden, wie wir Musik wahrnehmen, einschließlich der Frage, wo wir die Klänge im Raum verorten; sind hohe Töne rechts oder links, sind sie oben oder unten?


Ich erinnere mich, dass ich vor vielen Jahren als Student am Royal College of Music in London mit einem einfachen Stück von Mozart zu kämpfen hatte, bei dem ein langer Triller über einem Alberti-Bass zu spielen ist. Mein Anschlag war ungleichmäßig und schwer und ich hatte mit der Koordination der Hände zu kämpfen. Mein Professor sagte, ich hätte eine der besten linken Hände in der Branche, und er fragte, warum meine rechte Hand das nicht nachmachen könne. Natürlich verbesserte ich mich insgesamt als Allround-Pianist und erreichte einen gewissen Erfolg in Konzerten und Wettbewerben, aber es gab immer diesen nagenden Zweifel, dass ich mein Potenzial nicht ausgeschöpft hatte und der Prozess des Spielens nicht so natürlich war, wie er sein könnte.


Während einer schlaflosen Phase im Jahr 1995 begann ich mir vorzustellen, wie es wäre, auf einem umgekehrten Klavier zu spielen. Ich erinnere mich, dass ich zu dieser Zeit Ashkenazy ein Werk von Schumann spielen hörte, das ich auf dem normalen Klavier gelernt hatte. Als ich im Konzert die Augen schloss, spielte ich plötzlich das gleiche Stück seitenverkehrt.


Da begann ich mit dem Gedanken zu spielen, mir ein umgekehrtes Klavier bauen zu lassen. Doch die damit verbundenen finanziellen Kosten sowie die praktischen Schwierigkeiten, so ein schweres Klavier von einem Veranstaltungsort zum anderen zu transportieren, entmutigten mich schnell.


1996 schlug mir ein Freund vor, es zunächst mit einem Hammerflügel zu versuchen, der in Handarbeit gefertigt werden könnte und billiger in der Herstellung wäre. Mit einem Rahmen aus Holz anstelle von Eisen wäre er außerdem viel leichter als sein modernes Gegenstück. Ich wandte mich an die Presse, um die nötigen Mittel durch Sponsoring zu beschaffen, und gab in dieser Zeit mehrere Radio-Interviews. Ein Leitartikel in der Londoner Times im März 1997 sorgte weltweit für Aufmerksamkeit, und es dauerte nicht lange, bis ich genügend Geld zusammen hatte, um den Bau des ersten ›linkshändigen‹ Klaviers in Auftrag zu geben.


Die Utrechter Clavierbaufirma Poletti und Tuinman brauchte neun Monate, um das Instrument fertigzustellen. In dieser Zeit habe ich mein Keyboard gespiegelt programmiert und angefangen, ›anders herum‹ zu üben. Ich erinnere mich, dass ich überrascht war, wie schnell ich mich an das neue Tastenbild gewöhnen konnte und wie einfach es war, die Noten ›umgekehrt‹ zu lesen: mit der linken Hand den Violinschlüssel und mit der rechten Hand die Bassstimme. Ich begann mit Mozart, und obwohl ich mein ganzes Leben lang an die ›normale‹ Leseweise gewöhnt war, konnte ich innerhalb eines Tages fließend einfache klassische Stücke auf der Linkshändertastatur spielen.


Christophe Seed with his left-handed piano

Das linke Klavier war 1998 fertig und wurde noch im selben Jahr bei Festivals in Brügge und London ausgestellt, wo ich es einem verblüfften Publikum vorführte. Ich bemerkte auch, dass andere linkshändige (und beidhändige) Pianisten das Instrument besser beherrschten als der durchschnittliche rechtshändige Pianist. Es war eine gewisse Demütigung für einen bekannten (rechtshändigen) Konzertpianisten, der keine zwei Noten zusammensetzen konnte!

Im folgenden Jahr, 1999, gab ich das Debutkonzert in der Queen Elizabeth Hall in London und 2000 nahm ich meine erste CD für das Label Olympia auf.


Ich bin mit meinem linkshändigen Klavier in viele Länder gereist und habe sogar gelernt, es selbst zu stimmen und aus Transportern auf Konzertbühnen und zurück zu befördern.


Heute spiele ich sowohl auf meinem Linkshänderklavier als auch auf einem für Rechtshänder. Ich habe festgestellt, dass das beidseitige Spielen von Vorteil ist und meine pianistischen Fähigkeiten in jeder Hinsicht verbessert hat. Ich verwechsle die beiden Spielrichtungen nie, obwohl das zu interessanten neuen Kompositionen führen würde!

Die eine Hand kann nun die andere unterrichten, indem sie ihr Fingersätze und Phrasierungen vorschlägt – jetzt, wo sie deren Rolle exakt kopieren kann. Mein ehemaliger Professor lächelt vom Himmel darauf herab! Auch generell habe ich eine ganz neue Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit in meinem Spiel gewonnen.


Mein Lieblingsinstrument ist nach wie vor das Linkshänderklavier, es nährt weiterhin meine Seele. Wenn ich mich hinsetze, um zu spielen, bin ich mit der Welt im Reinen.



Chris Seed in front of two pianos - a left-handed and a right-handed

© Chris Seed, Juni 2023





Fotos: privat




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