Renata Soraya Schoepflin
Violoncello
Fotos: Alexander Englert
Im Interview mit Sophia Klinke von Linksgespielt
Gespräch vom 22.07.2022
Wie beschreibst du deine Händigkeit?
Ich bin Linkshänderin, wusste das aber knappe 50 Jahre lang nicht. Habe alles mit rechts gemacht und hätte Stein und Bein geschworen, dass ich Rechtshänderin bin.
Wie kam es dazu, dass du erst so spät von deiner Linkshändigkeit erfuhrst?
Das war 2010: Ein fünfjähriger hochmotivierter Junge kam zu mir in den Unterricht. Er war Linkshänder und die Eltern fragten mich sogar, ob man dann Cello auch linksherum spielt. Ich schüttelte den Kopf und sagte, das sei nicht üblich.
Der Junge hat bestimmt ein Jahr lang instinktiv zu Beginn der Stunde den Bogen in die linke Hand genommen. Ich musste ihm regelmäßig sagen: „Bogen rechts“. Deutlicher kann ein Kind es ja kaum zeigen. Ich habe nicht reagiert, weil ich noch nie etwas davon gehört hatte, dass man als Linkshänder auch linksherum spielen kann.
Über die Jahre beobachtete ich, dass Dinge, die ich im Unterricht gezeigt hatte und die im Unterricht auch liefen und funktionierten, sich nicht automatisierten, obwohl er sie verstanden und zu Hause geübt hatte – er war sehr motiviert. Trotzdem musste ich ihm bestimmte Bewegungen immer wieder erklären.
Alle meine Schüler lasse ich improvisieren. Was dieser Junge erfunden hatte, war jedes Mal sehr mathematisch: Zwei Achtel a, zwei Achtel d, zwei Achtel g, zwei Achtel c – die leeren Saiten. Es war sehr rechnerisch und wenig aus einer inneren Bewegtheit heraus. Das hatte mich etwas befremdet. Trotz seiner starken Begabung stockte es und ging nicht richtig weiter.
Zu diesem Zeitpunkt wollte ich mein eigenes Cellospiel noch einmal aufpolieren und besuchte einen Meisterkurs. Irgendetwas in meinem Spiel stimmte nicht, war nicht rund – etwas funktionierte nicht so wie bei manchen anderen.
Der Lehrer des Meisterkurses war der Überzeugung, ich würde eben nicht genug üben. Diesen Vorwurf habe ich oft gehört. Dabei habe ich bis zum Umfallen geübt! Ich erzählte meiner Mutter von alldem, die übrigens selbst umgeschulte Linkshänderin ist und ihr Leben lang darunter gelitten hat. Sie gab mir das Buch ,,Der umgeschulte Linkshänder oder der Knoten im Gehirn“ von Dr. Johanna Barbara Sattler. Beim Lesen dieses Buches habe ich gedacht: „Ach, schau, das könnte ich sein.“ Da wurde erzählt von Beschwerden, wegen derer ich seit Jahren zum Arzt gegangen war und alle haben mich nur komisch angeschaut und konnten nichts mit meinen Beschreibungen anfangen. Die Schmerzen in meiner rechten Schulter beispielsweise. Beim Musizieren hatte ich zwar keine Schmerzen, aber nach dem Spielen als direkte Folge. Ich dachte, es sei eine Verkrampfung oder irgendwas in dieser Richtung und bekam auch einmal Krankengymnastik verschrieben. Das hat immer Symptome gelindert, aber ich spürte genau, dass der Kern der Sache nicht getroffen war.
Dann wurden auch sehr ausführlich die seelischen Folgen der Umschulung beschrieben. Ich war jahrelang in Psychotherapie gegangen, und auch hier hatte ich den Eindruck: Ja, ganz nett, aber der grundlegende Knoten ist nicht gefunden. Ich habe das meiner Psychotherapeutin gegenüber mal genau so formuliert, und sie hat versucht, mich zu überzeugen, es sei nicht EIN großer Knoten, sondern mehrere kleine. Ich habe innerlich genau gewusst, dass sie nicht recht hatte, aber was soll man sagen?
Als ich in diesem Buch las, resonierte etwas in mir. Ich dachte, ich müsse jetzt ausprobieren, wie es ist, den Bogen in die linke Hand zu nehmen. Es war wirklich gespenstisch, dabei hatte ich es gar nicht mal wirklich richtig ernst genommen, sondern nur gedacht: „Das probiere ich jetzt mal aus.“
Es hat einen derartigen Strom durch diesen Arm gegeben! Das kann ich überhaupt gar nicht beschreiben. Das war wie eine „Erleuchtung“. In dem Moment war es entschieden.
Es war auch sofort klar, dass die nicht erkannte und nicht gelebte Linkshändigkeit Ursache dieser komischen Probleme war, die ich die ganze Zeit hatte. Nicht, dass plötzlich alles weg gewesen wäre – das kann man ja nicht so leicht beseitigen. Aber was die Ursache all dessen war, das war plötzlich klar.
Ich wäre vorher nie auf den Gedanken gekommen, dass ich Linkshänderin bin – vor allem, da meine Mutter ja selbst betroffen ist. Ich kann mir vorstellen, dass mein Vater eingegriffen hat als ich sehr klein war, aber er lebt nicht mehr und so kann ich ihn nicht mehr fragen.
Was hast du nach dieser Erkenntnis veranlasst? Wie bist du weiter vorgegangen?
Ich hatte ein ¾-Sperrmüll-Cello, dessen Saiten ich umgekehrt aufzog. Mit Hilfe meines Alexandertechnik-Lehrers übte ich auf diesem Dreiviertel-Schrott-Cello eine Weile, um zu schauen, wie sich das anfühlt. Als klar wurde, dass es ernst ist, habe ich mir ein linkshändiges Schülercello gekauft, auf dem ich etwa zwei, drei Jahre spielte.
Ich habe verschiedene Wege ausprobiert. Zunächst einmal habe ich mit dem linken Bogenarm die Saiten gespielt und erst später die rechte Greifhand dazu genommen. Anfänglich versuchte ich, mein Cellospiel methodisch mit einer Schule aufzubauen. Ich versuchte, Bogenhaltung und Armbewegung so zu machen, wie man es eben macht – weiß ja schließlich, wie das geht, und habe genügend Lehrer gehabt, die mir das gesagt und auch verschiedene Theorien darüber entwickelt hatten. Das funktionierte aber nicht.
Daraufhin habe ich gedacht: „Jetzt spiele ich eine Bach-Suite.“ Das war eine sehr merkwürdige Erfahrung: Den Bogen in die linke Hand zu nehmen, ging ja noch. Beim Versuch, mit der rechten Hand Töne zu treffen, tappt die Hand jedoch total im Dunkeln – also bei mir jedenfalls. Ich hatte noch nicht mal die Saite getroffen. Ich musste erstmal lernen, wieder die Saite zu fühlen!
Ich habe versucht, diese Entwicklung zu forcieren, aber mein Eindruck ist, dass dieser Prozess zeitlich nicht beeinflussbar ist. Man muss dem Ganzen die Zeit geben, die es braucht.
Mittlerweile kann ich die Saiten fühlen und ich wechsele zwischen systematischem, methodischem Aufbau und intuitiver Übertragung von der rechten Seite.
Was sind oder waren die größten Herausforderungen am Umlernen?
Mein Körper hat sich total verkrampft. Ich glaube, dass es dafür zwei Ursachen gab: Erstens übertragene Verkrampfungen, die durch die jahrelange verdrehte Spielweise “eingeübt“ waren, und zweitens neue, die durch die neue Belastung und Überlastung entstanden, denn ich bin nicht wirklich vorsichtig vorgegangen. Ich stand total unter Schock. Ich habe zu der Zeit sehr viel Alexandertechnik gemacht, aber wirklich geholfen hat nachher die „Lichtenberger Methode“ nach Gisela Rohmert. Meine Finger wurden wieder weicher und es begann sich so anzufühlen, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Ich hatte immer ein inneres Bild davon, wie es eigentlich sein sollte. Deswegen war ich mein Leben lang auf der Suche gewesen. Jetzt ist es endlich richtig.
Gab es von irgendeiner Seite Vorbehalte bezüglich deines Umlernens auf links?
Aus meinem engeren Umfeld waren eigentlich alle dagegen: Familie, Freunde, Kollegen.
Mein Meisterkurs-Lehrer war total entsetzt. Auf seine Meisterkurse war ich zuerst rechts- und dann die nächsten paar Jahre linksherum spielend gegangen. Einmal, als wir Cello-Ensemble spielten, trug er mir auf, Aufstrich zu spielen, wenn alle anderen Abstrich spielen, und umgekehrt – wegen der Optik. Auf meinen entsetzten Gesichtsausdruck hin meinte er voller Ingrimm: Ja, damit müsse ich rechnen, wenn ich links herum spiele. Gott sei Dank hat das bisher nie wieder jemand von mir verlangt. Das war ziemlich extrem. Andere distanzieren sich einfach oder ignorieren, was ich mache. Das ist schon schmerzhaft, aber ich lerne ja auch viele neue Leute kennen, die sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigen.
Du studiertest auch in den USA. Weiß der amerikanische Lehrer von deinem Umlernen?
Ja, ich hatte ihm davon erzählt. Wie alle echten Rechtshänder war er interessiert. Er hatte während meines dortigen Studiums etwas bemerkt, auch wenn er es nicht in der Händigkeit verorten konnte. Wir waren immer wieder an diesen Punkt gestoßen, an dem es nicht weiterging und den ich nicht näher beschreiben kann. Ich war total verzweifelt, denn er war überzeugt von mir und ich war überzeugt von ihm. Wir saßen da und er sagte „You just can’t learn it.“ Ich habe den einzigen Weinkrampf meines Lebens bekommen.
Ich hatte deswegen zwar nicht das Studium abgebrochen, aber wir waren beide irgendwo am Ende. Drei Jahre studierte ich dort und am Ende war er der Auffassung, er hätte wohl versagt. Das war schon schlimm und tragisch.
Spielst du im Orchester? Was sind dabei deine Erfahrungen bezüglich deiner Seitigkeit?
Relativ bald, nachdem ich das Schülercello hatte, begann ich, in einem kleinen Laien-Kammerorchester zu spielen. – Ich dachte, der Flow in einer Gruppe würde den Prozess befördern. Die Leute dort waren sehr aufgeschlossen. Später bin ich in ein großes Laien-Sinfonieorchester gegangen. Dort bin ich immer noch und mein Linksspielen macht überhaupt keine Probleme.
Ich sitze immer rechts am Pult, damit die Frösche zueinander spielen. Mit den Bogenspitzen kommt man sich schon eher ins Gehege. Sie sind weiter weg vom Körper, deshalb hat man sie nicht so gut unter Kontrolle wie den Frosch. Außerdem sind sie empfindlicher als die Frösche. Deswegen sitze ich immer rechts und muss dem Bratschisten gelegentlich sagen: „Komm, rutsch noch ein Stück“.
Welche kuriosen Erlebnisse hattest du schon mit deiner Spielweise?
Ein kurioses Erlebnis mit meinen Ringfingern: Ich hatte während des Studiums meinen linken (Greif-)Ringfinger einmal so verletzt, dass ich einige Monate nicht spielen konnte. Danach trainierte ich ihn sorgfältig, auf dass er wieder normal funktioniere. Ich spielte ohne Beschwerden, beendete mein Studium und dachte nicht mehr viel an den Vorfall. Einziges Überbleibsel der Verletzung: Ich hatte beim Autofahren die Angewohnheit gehabt, die Schalter auf der linken Seite des Lenkrades mit dem Ringfinger zu betätigen. Diese Bewegung stellte sich nach der Ausheilung nie wieder ein, obwohl ich es bewusst versuchte – es kam einfach nicht mehr so selbstverständlich. Als ich umlernte, dachte ich: „Ist ja praktisch, dann habe ich eine unverletzte Greifhand“. Einige Monate nach Beginn dieses Prozesses bemerkte ich, dass sich mein rechter, nunmehr Greif-Ringfinger, irgendwie komisch bewegte. Ich beobachtete dieses merkwürdige Verhalten und kam darauf, dass es Schonhaltungen oder Ausgleichsbewegungen meines linken Ringfingers sein müssten, die dieser auf Grund der Verletzung ausgebildet hatte und deren Muster sich nun auf den rechten, unverletzten Finger übertrugen. Ich trainierte also meinem rechten Ringfinger, sich „normal“ zu bewegen. Einige Zeit später bemerkte ich: Mein linker Ringfinger fing wieder an, die Schalthebel auf der linken Seite des Lenkrades so zu betätigen, wie es früher war. Das hat mich doch sehr beeindruckt.
Was ich schön finde: Ich hatte ein Konzert gegeben und die Leute haben nichts gesagt. Es war ein Solokonzert – also niemand neben mir, durch den oder die mein Linksstreichen hervorgehoben gewesen wäre. Aber trotzdem war dem Publikum überhaupt nichts aufgefallen! Außer den Leuten, die um mein neues linkshändiges Spiel wussten, bemerkte anscheinend niemand etwas.
Was auch total interessant war: Als ich von meiner Linkshändigkeit erfuhr, habe ich auf dem Schrottcello angefangen, linksherum zu unterrichten, weil ich dachte, ich könnte ja ein bisschen mit üben. Meine Schüler hatten früher immer eine etwas “saloppe“ Haltung. Da ich von meinen vielen Körpertherapien weiß, dass innere Aufrichtung etwas anderes ist als das, was geschieht, wenn man sagt „sitz' gerade“, sage ich das nie. Als ich die Schüler linksherum unterrichtete, beobachtete ich plötzlich, dass sich ihre Haltung besserte, ohne irgendein bewusstes Zutun meinerseits. Das war ein weiteres Erlebnis mit dem Geheimnis menschlicher Körper. Und da habe ich gedacht: „Du bist auf dem richtigen Weg“.
Als ich meinem Tai-Chi-Lehrer von meinen Erkenntnissen erzählte, meinte er im ersten Impuls: „Willst du jetzt die Tai-Chi-Form auch seitenverkehrt machen?“ Erst lachte ich, aber dann dachte ich: „Ja, probieren“. Er hatte es gar nicht ernst gemeint, aber das hatte er sich nun eingebrockt. Ich ging daraufhin zu Einzelstunden zu ihm und nach einer Weile meinte er: „Tatsächlich, du kannst es so herum besser lernen.“ Also auch hier wieder eine Bestätigung.
Woher hast du deine Instrumente?
Am Anfang habe ich auf besagtem Schrottcello gespielt. Das hatte ich im Haus. Dann habe ich mir ein Schülerinstrument von Urs Mächler besorgen lassen. Nach einer Weile habe ich mein gutes Cello, das auch von Urs Mächler ist, von ihm auf links umbauen lassen.
Mittlerweile habe ich auch ein linkes E-Cello! Den Instrumentenbauer hatte ich auf der Musikmesse getroffen und ihn gefragt, ob er mir eines linksherum machen würde. Er hatte sogar schon eines, das war aber ein älteres Modell, und da er mir sein neues Modell vorher schon so wärmstens angepriesen hatte, musste er mir jetzt dieses Modell linksherum bauen.
Spielst du heute noch rechtsherum?
Nein. Höchstens, wenn ich auf einem Schülerinstrument etwas demonstrieren will.
Welche Vorteile siehst du für dich im Linksspielen?
Das Identitätsgefühl, was nur schwer in Worte zu fassen ist, steht über allem. Du hast das Gefühl, du bist richtig herum. Das ist durch nichts zu ersetzen.
Der Lernprozess funktioniert jetzt endlich so, wie ich schon immer fühlte, dass er funktionieren soll. Ich kann mich sehr viel länger konzentrieren und habe ein wesentlich besseres Gedächtnis. Dinge, die ich geübt habe, bleiben besser und ich kann auf Vorhandenes aufbauen. Früher hatte ich immer den Eindruck, jeden Tag wieder von vorne anfangen zu müssen.
Spiccato und Sautillé gingen bei mir nie so richtig. Mein besagter Rechtshänder-Lehrer in Amerika hatte versucht, mir das beizubringen. Ich war von Gerhard Mantels Büchern gewohnt, ausführliche Analysen der abzuliefernden Bewegung zu erhalten. Als ich meinen Lehrer danach fragte, schaute er etwas entgeistert und meinte: „Du setzt dich hin und übst so lange, bis es klappt.“ Ich konnte aber so lange üben, wie ich wollte – es hatte eben nicht geklappt, sondern wurde immer verkrampfter. Heute weiß ich: Mit links würde es klappen. Ich könnte mich hinsetzen und einfach Sautillé üben und irgendwann würde es klappen. Ich brauche keine Tricks mehr. Nur Zeit. Die Zeit ist das Problem im Moment.
Mein Hören ist kein Vergleich zu vorher und befindet sich noch immer in der Entwicklung. Ich höre plötzlich – auch als Zuhörerin in Konzertbesuchen – viel differenzierter. Meine Intonation ist, abgesehen von dieser Verkrampftheit, besser geworden: Erstens, weil ich genauer höre und ein besseres Gedächtnis – auch Tongedächtnis – habe, und zweitens, weil Automatisierungsprozesse stattfinden, die vorher nicht stattgefunden haben.
Früher hatte man mir immer gesagt: „Mach mehr Ton“. Ich habe nie gewusst, was die Leute eigentlich meinen und verzweifelt versucht, mehr Ton zu machen. Das war mir auch streckenweise gelungen und mir wurde gelegentlich sogar ein sehr schöner Ton attestiert, aber ich konnte einfach nicht aus den Vollen schöpfen.
In dem Moment, als ich den Bogen in der linken Hand hatte, war der Ton anders und war der Ton meiner. Da musste ich nicht mehr verzweifelt „mehr Ton“ machen, sondern der Ton war einfach da. Ich muss auch nicht mehr „mehr Ausdruck“ machen. Das ist auch heute noch so. Wenn ich mit rechts streiche, ist der Ton, obwohl geübter, qualitativ anders – körperlos sozusagen – als mit links. Am Anfang dachte ich, ich könnte diese Qualität meinem rechten Arm irgendwie beibringen, aber das geht nicht.
Ich bekomme auch andere Rückmeldungen auf den Meisterkursen. Früher war Ton und Ausdruck oft ein Thema, und ich war oft verzweifelt, weil das, was ich sagen wollte und sehr stark fühlte, offenbar nicht herüberkam, beziehungsweise mir vom Dozenten freundlich nahegelegt wurde. Das habe ich jetzt nicht mehr in dieser Form.
Ich hatte einen erwachsenen Schüler, der über 50 war, als er zu mir kam, und Cello spielen lernen wollte. Ziemlich bald habe ich gesehen, dass er ein umgeschulter Linkshänder ist, und sprach ihn darauf an. Er war aufgeschlossen und beschaffte sich ein Linkshändercello der Firma Marx, auf dem er ein bisschen herum experimentierte. Er reagierte sensibel auf seinen neuen Ton, den er nun mit seinem linken Arm erzeugte, und sagte, es sei kein Vergleich zu seinem früheren Klang auf dem Rechtshändercello und dass er diesen Klang mit der rechten Hand auch nicht erreichen könnte. Also entschied er sich fürs Linksspielen. Allerdings hatte er in der rechten Hand irgendetwas mit seinen Knochen gehabt und die Belastung nicht ausgehalten. Sein Arzt war nicht begeistert und empfahl, wieder rechtsherum zu spielen. Daraufhin beendete er das Cellospiel und das fand ich richtig traurig. Er hatte gespürt, dass er niemals rechtsherum würde befriedigend Cello spielen können – und dann spielt er eben gar nicht. Ich verstand das sofort.
Meine rhythmische Stabilität ist wesentlich besser geworden. Zwar habe ich nie gedacht, rhythmische Probleme zu haben, aber mein Lehrer in den USA hatte in der Richtung immer etwas bemängelt und ich dachte immer: „Wieso? Ich doch nicht!“
Jetzt merke ich, dass ich rhythmisch viel stabiler geworden bin. Auch bei meinen umgeschulten Schülern bemerke ich, dass die genauso rumeiern wie ich damals. Meiner Beobachtung nach gibt es eine erschreckend hohe Anzahl von Kindern, die sich für Rechtshänder halten, die ich aber für Linkshänder halte. Da können Achtelnoten schon mal genau gleich lang wie Viertelnoten sein und sie merken es nicht. Auch starke Temposchwankungen sind charakteristisch und zwar in einer anderen Art und Weise, als das einem Rechtshänder passiert. Bei einem Rechtshänder kann man das korrigieren. Der merkt es und dann passt es. Bei linkshändigen Kindern, die rechts spielen, funktioniert das nicht. Zum Glück haben sich einige Eltern und Kinder für die Thematik geöffnet, sodass ich auch linkshändige Schüler linksherum unterrichte, obwohl sie teilweise noch rechtsherum schreiben. Wir haben das Instrument einfach auf beiden Seiten ausprobiert und uns für die entschieden, die sich besser anfühlt. Es funktioniert auch hervorragend. Der Lernprozess verläuft ungestört.
Die rhythmische Instabilität kann man auch beim Trommeln beobachten. Man kann Kinder einen einfachen Rhythmus trommeln lassen. Bei Kindern, die mit der nicht-dominanten Hand die Eins schlagen, fängt es nach kurzer Zeit an, zu „eiern“, während es stabil bleibt, wenn mit der dominanten Hand die Eins geschlagen wird.
Da gibt es noch viel zu forschen. Aber man muss mit Leuten anfangen, die nicht geschult sind und vor allem mit den Menschen sprechen, die aufgehört haben. Da muss man schauen, ob es sich vielleicht um Umgeschulte handelt: Was waren ihre Probleme? Warum haben sie aufgehört?
Gibt es noch etwas, das du ergänzen möchtest?
Man liest ja immer wieder, dass für Linkshänder die Leserichtung von rechts nach links und gespiegelt sei. Ich dachte: „Zu verlieren habe ich ja nichts mehr. Ist der Ruf erstmal ruiniert, ...“ – so nach dem Motto. Ich habe also meine Noten vor den Spiegel gestellt und den Notenständer umgedreht, sodass ich die Noten im Spiegel sehen konnte – zunächst natürlich schon eine Umstellung! Und doch habe ich gefunden: ,,Ja, ich glaube, das stimmt“ – die Leserichtung von rechts nach links. Ein paar Jahre habe ich alle meine Noten eingescannt, gespiegelt und wieder ausgedruckt. Das war eine elende Arbeit.
Irgendwann war ich bei Géza Lozó. Er zeigte mir seine Version der Notenschrift, die von links nach rechts geht. Seine Meinung ist, wir wären so gewöhnt an diese Leserichtung, dass er sie nicht mehr umstellen wolle, aber die tiefen Töne sind bei ihm oben und die hohen unten. Das war mir nicht eingeleuchtet und ich fand das Notenlesen furchtbar anstrengend, obwohl er sehr begeistert war, wie gut ich es umsetzen konnte. Auf dem Weg nach Hause dachte ich: „Wenn die tiefen Noten oben und die hohen unten stehen sollen, ich aber von rechts nach links lesen möchte, ist es ganz einfach: Ich muss meine Noten einfach nur kopfüber auf den Notenständer stellen. Dann stehen die tiefen Noten oben, die hohen unten und ich kann von rechts nach links lesen.“
Das habe ich ein bisschen geübt und mache es bis heute so. Es geht super. Man muss nichts einscannen und spiegeln. Für mich stimmt es so. Ich habe allerdings noch nicht versucht, auf diese Art und Weise Klavier zu spielen. Ich weiß nicht, wie das wäre, weil man da ja zwei Systeme hat.
Bücher lese ich übrigens auch so. Die lese ich über Kopf. Das erregt oft das Interesse meiner Zugmitfahrer. Kann man aber auch interessante Gespräche führen.
Meine Schwester sagte oft, sie fände Landschaftsbeschreibungen in Büchern so toll. Und ich dachte früher immer: „Was gibt es Schlimmeres als irgendeine Landschaft zu beschreiben? Das ist ja elend langweilig. Ich will Action haben“, und hatte die beim Lesen immer übersprungen. Und jetzt plötzlich, seit ich andersherum lese, entstehen da innere Bilder bei mir. Auch Farben nehme ich viel berauschender war.
Wie schön!
Ja! Das ist eine völlig neue Erfahrung! Ich kann den Inhalt wesentlich tiefer aufnehmen. Ich kann zwar von links nach rechts immer noch schneller lesen, aber dafür nehme ich den Inhalt auch nicht so gut auf. Jetzt, nachdem ich weiß, wie Lesen gehen kann (für mich also über Kopf), fällt mir auf, dass ich früher immer etwas in Sprüngen gelesen habe, also meine Augen springen etwas voran und schauen dann einen kleinen Abschnitt von rechts nach links, also quasi rückwärts. Das passiert auch heute noch, wenn ich „normal“ lese.
Als Schülerin hatte ich mal gehört, man solle seine Diktate von hinten korrigieren, weil dann das Sinnverständnis ausgeschaltet sei und man mehr auf die Rechtschreibung achten könne. Das funktionierte bei mir immer super. Mittlerweile denke ich, dass das deshalb so gut funktionierte, weil es meine Leserichtung war.
Wenn ich aus Bequemlichkeit mal konventionell lese, merke ich, dass sich in meinem Kopf irgendetwas verdreht und es mir ein sehr unangenehmes Gefühl bereitet. Ich werde sogar schon aggressiv, wenn überall Plakate hängen und mein Hirn die automatisch von links nach rechts liest, bevor ich es bemerkt habe. Das reicht mir schon.
Wie spannend! Ich bemerke beim Lesen oft einen gewissen körperlichen Widerstand gegen das Lesen an sich aufgrund der Leserichtung.
Das hatte ich auch ganz lange. Früher habe ich zwar trotzdem wahnsinnig viel gelesen – ich war eine richtige Leseratte – aber als ich das Spiegeln begann, erstmal weniger, weil es mir einfach zu viel wurde: Anfänglich hatte ich immer einen Rasierspiegel mitgenommen, um darin die Bücher gespiegelt lesen zu können. Aber das war auf Dauer zu anstrengend.
Mit dem Linksschreiben hänge ich noch etwas. Ich habe einfach nicht genug Zeit, alles zu üben. Natürlich hatte ich anfangs auch versucht, in Spiegelschrift zu schreiben – Leonardo lässt grüßen – aber ich konnte das nicht so einfach. Es wird ja oft geschrieben, dass Linkshänder das sofort können. Ich nicht.
Da ich über Kopf lese, habe ich auch angefangen, über Kopf zu schreiben. Das ist dann wieder Gesprächsstoff mit meinen Mitmenschen.
Das Schreiben von links nach rechts widerstrebt mir wegen dieser für mich als Linkshänderin falschen Richtung.
Meine 90-jährige Mutter klagte ihr Leben lang darüber, dass sie umgeschult wurde, hatte aber immer den Standpunkt vertreten, sie könne das Schreiben nicht mehr auf links rückschulen, da sie es nun einmal schon rechtsherum gelernt hatte. Als ich vor ein, zwei Jahren mit ihr Essen war und wir wegen Corona unsere Kontaktdaten hinterlassen mussten, sah ich sie plötzlich – ganz langsam und vorsichtig – mit ihrer linken Hand schreiben. Ich habe mich total gefreut.
Vielen Dank, liebe Renata, für dieses ausführliche, sehr interessante Gespräch!