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AutorenbildPeer Oehlschlägel

„Das volle Potenzial entfalten“ – Bericht von der Fortbildung ‚Händigkeitsorientierte Musikerziehung‘


Plakat Händigkeitsorientierte Musikerziehung

HÄNDIGKEITSORIENTIERTE MUSIKERZIEHUNG Unter dem Begriff Händigkeit versteht man die bevorzugte Verwendung einer Hand für feinmotorische Tätigkeiten. In der Instrumentalpädagogik findet sie bisher kaum Beachtung. Dabei spielt die Berücksichtigung der Händigkeit eine durchaus wichtige Rolle für die Gesundheit, den Lernerfolg sowie den emotionalen Ausdruck beim Instrumentalspiel. In diesem Vortrag mit anschließendem Praxisworkshop geht es darum, wie wir als Musikpädagoginnen und -pädagogen die angeborene Händigkeit unserer Schülerinnen und Schüler wahrnehmen, respektieren und fördern können. Seit Juni 2023 ist die Kreismusikschule Nordfriesland zertifiziert als „gesunde Musikschule“. Diese Veranstaltung wird unserem Anspruch gerecht, gesundheitsfördernde Maßnahmen für Lehrkräfte sowie für Schülerinnen und Schüler an unserer Musikschule durchzuführen. Zielgruppe: Musikpädagoginnen und -pädagogen aller Fachbereiche Musiklehrerinnen und -lehrer an allgemeinbildenden Schulen Musikschul- und Fachbereichsleitungen



Der Landesverband der Musikschulen in Schleswig-Holstein hat das Thema in seine Fortbildungsreihe aufgenommen und so diesen Workshop ermöglicht.


Es hatten sich zehn Teilnehmende angemeldet, die meisten aus dem norddeutschen Raum. Eine Teilnehmerin war aus Sachsen-Anhalt, ein anderer aus Würzburg angereist.


In den ersten zwei Stunden hatte die Händigkeitsberaterin Judith Bremer Gelegenheit, mit ihrem Vortrag den Begriff „Händigkeit“ zu erklären und von ihren Erfahrungen aus 19 Jahren Praxis zu berichten. Judith Bremer macht Händigkeitstestungen, Lehrerfortbildungen für das IQSH und bildet

zur qualifizierten Händigkeitstestung aus.


Sie ging auch auf die Folgen einer Umschulung durch den verstärkten Gebrauch der nicht-dominanten Hand ein.


Das Handout für die Teilnehmenden füge ich an dieser Stelle ein.



 

Kleine Auswahl von möglichen Primär- und Sekundärfolgen einer nicht gelebten Linkshändigkeit



Typische Primärfolgen einer unerkannten Linkshändigkeit sind:


- Gedächtnisstörungen (häufiges Verwenden von Eselsbrücken)

- Kein zuverlässiger Zugriff auf das abgespeicherte Wissen, verlorene Potentiale

- Konzentrationsschwierigkeiten (schnelle Ermüdbarkeit)

- legasthene Probleme (richtiges Buchstabieren, Fehler beim Aufschreiben) – Ursachenbehebung ist hilfreicher als jahrelange Symptombehandlung

- Zahlen und Buchstaben werden unter Stress verdreht (Notenlesen bzw. Verlesen!)

- Probleme beim Mitschreiben (Endungen oder ganze Wörter werden ausgelassen)

- verkrampfte Stifthaltung (überschlagener Daumen, Mittelfinger mit auf dem Stift, kein Drei-Punkt-Griff), starker Schreibdruck, vergleichbar mit einer verkrampften Bogenhaltung bei Geige und Cello

- Raum-Lage-Probleme (Rechts-Links-Unsicherheiten)

- Sprachstörungen (Stammeln bis hin zum Stottern)



Häufige Sekundärfolgen (psychische Reaktionen auf Primärfolgen):


- Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefühle und Rückzugstendenzen

- Überkompensation durch erhöhten Leistungseinsatz

- Trotzhaltung, Widerspruchsgeist, Imponier- und Provokationsgehabe,

Nägelkauen, stottern

- unterschiedliche Verhaltensstörungen (ADHS/ADS )

- emotionale Probleme bis ins Erwachsenenalter


Es ist sehr wichtig zu betonen, dass alle diese Schwierigkeiten auch bei Rechtshändern und auch bei linksschreibenden Linkshändern auftreten können. Es sind Arten, wie unser Gehirn auf Irritationen und Störungen reagiert.



Copyright © Judith Bremer – Diplompädagogin, Händigkeitsberatung www.Judith-Bremer.de

 


Die meisten Teilnehmenden wussten nichts von Umschulungsfolgen, daher war diese Einführung in die Thematik besonders wichtig. Überwiegend stimmten sie mit uns überein, dass ein Instrument zu erlernen mindestens genauso anspruchsvoll ist, wie das Schreiben lernen. Dementsprechend müsste beim Instrumentalspiel entgegen der natürlichen Händigkeit mit ähnlichen Umschulungsfolgen zu rechnen sein.

Ich wies darauf hin, dass vor allem im Leistungsbereich, die Umschulungsfolgen gravierend sein können.


Zum Abschluss ihres Vortrages führte Judith Bremer mit allen Anwesenden einige

Praxisübungen durch: Beim Herausziehen eines Taschentuches aus seiner Verpackung, beim Entnehmen eines Briefes aus einem Umschlag und beim Öffnen eines Marmeladenglases müssen beide Hände genau beobachtet werden.


Es ist nicht relevant, welche Hand welchen Gegenstand hält, sondern welche

Hand die aktivere ist und welche Hand die Haltefunktion hat. So kann bei den drei genannten Beispielen z. B. eine Hand zwar das Taschentuch halten, die andere zieht aber die Packung weg – eine Hand hält den Brief, die andere zieht aber den Umschlag beiseite – der Deckel des Marmeladenglases wird von einer Hand gehalten, während die andere das Glas von unten dreht.


Aus diesen genauen Beobachtungen BEIDER Hände gewinnt Judith bei der Durchführung einer Händigkeitstestung aussagekräftige Hinweise auf die natürliche Händigkeit.


 


In der Mittagspause haben sich interessante Gespräche entwickelt. Es war ein Büchertisch vorhanden, Linkshänderinstrumente waren spielbereit und wurden ausgetestet.



 

Um 12.45 Uhr ging es weiter mit meinem Vortragsteil:




Die obigen Fragen und Feststellungen ergänzte ich mit einem Auszug aus dem 2015 verabschiedeten Leitbild des VdM (Verband deutscher Musikschulen):


„Wir bekennen uns zur Inklusion als Anspruch und Aufgabe. Wir ermöglichen jedem Menschen, an der Musik teilzuhaben – durch diskriminierungsfreie, auch aufsuchende Angebote, durch weitgehende Selbstbestimmung jedes Einzelnen sowie eine äußere und innere Barrierefreiheit. Vielfalt und Heterogenität erkennen und nutzen wir als Chance und stellen dabei den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt.“

Ich berichtete vom Besuch des Musikschulkongresses 2023 in Kassel. Dort bekam ich in mehreren Workshops von Dozenten bestätigt, das Linkshändige eine Gruppe darstellen, die an Musikschulen Diskriminierung ausgesetzt sind.


Des Weiteren schilderte ich meine Erfahrungen mit linkshändigen Schülerinnen und Schülern an meiner Musikschule. Wenn meine rechtshändig spielenden Schülerinnen und Schüler sich etwas bei mir abschauen wollen, fordere ich sie auf, sich vorzustellen in einen Spiegel zu schauen. Habe ich einen linkshändig spielenden Menschen im Unterricht, wechsle ich an ein Rechtshänder-Instrument und verfahre ebenfalls nach dem Spiegel-Prinzip. Idealerweise müsste ich zwei Linkshänder-Schlagzeuge im Unterrichtsraum haben, was aus Platzgründen meist nicht passt.


In Gruppensituationen beim Trommeln bitte ich rechtshändig spielende SchüleInnen, meine Spielweise zu „spiegeln“, und linkshändig spielende, sich neben mich zu setzen, um seitlich abzuschauen.



Es kam von einer Teilnehmerin der Einwand, Kinder im Alter zwischen 4 und 7 Jahren könnten diese „Spiegelvorstellungs-Leistung“ noch nicht erbringen. Wenn sie damit Recht haben sollte – diese Altersgruppe ist häufig vertreten an Musikschulen, in diesem Alter werden wichtige Grundlagen gelegt –, müssten InstrumentalpädagogInnen das linkshändige Spielen ein Stück weit selbst erlernen. Hier müsste unbedingt geforscht werden und Erfahrungen aus dem Unterrichten von linkshändigen Kindern müssten gesammelt werden.



Wollte man Linkshändigen gleiche Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten beim Erlernen eines Instruments einräumen, müsste man ihnen jedes Instrument in einer „gespiegelten“ Version anbieten können.


Ich berichtete von Kolleginnen und Kollegen, die Saiteninstrumente unterrichten und der Auffassung sind, linkshändige Menschen wären besser dran an einem Rechtshänderinstrument, weil sie dort mit ihrer stärkeren Hand auf dem Griffbrett unterwegs sind.

Zwar sind die Aufgaben beider Hände sehr anspruchsvoll, die Streich- bzw. Zupfhand hat aber den größeren Anteil an der Klangproduktion und der Gestaltung des musikalischen Ausdrucks.

Wenn es diesen Vorteil der Linkshändigen auf Rechtshänder-Instrumenten wirklich gäbe, müssten ja rechtshändigen Schülerinnen und Schülern entsprechend gespiegelte Instrumente empfohlen werden. Davon habe ich aber noch nie gehört. – Der Mythos hält sich trotzdem hartnäckig.


Aus dem Teilnehmerkreis kam die Feststellung: Wäre etwas dran an der größeren Bedeutung der Greifhand, würden die Instrumente ja „Greifinstrumente“ heißen!


 


Viel diskutiert wurde über die Verfügbarkeit von Linkshänder-Instrumenten in allen Bereichen und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben.


Bislang gibt es noch nicht alle Instrumente als Linkshänder-Version – und wenn es sie gibt, sind sie noch nicht immer in allen Größen als Schülerinstrumente zu bekommen.

Das ist natürlich ein sehr wichtiges Thema im Hinblick auf die Beratung von Linkshändigen, die ein Instrument erlernen wollen.


Auf eine andere Art problematisch verhält sich das Klavier, welches digital zwar spiegelbar ist, in akustischer Version aber noch viel zu selten als Linkshändermodell verfügbar ist.


Das Resümee lautete hier, dass eine zunehmende Nachfrage dafür sorgen würde, das

Angebot zu erweitern.


Interessant war ein Einwurf von Judith Bremer:

„Als InstrumentalpädagogInnen müssen wir unsere Schülerinnen und Schüler darauf hinweisen, dass sie ihr volles Potential nicht entfalten können, wenn sie entgegen ihrer natürlichen Händigkeit musizieren.“


 


Aus meiner ganz persönlichen Erfahrungen aus 20 Jahren des Spielens gegen meine Händigkeit und inzwischen 20 Jahren des Spielens mit meiner natürlichen Händigkeit kann ich sagen, worin für mich die wesentlichen Unterschiede liegen:


Seitdem ich linkshändig spiele, kann ich mein Spielen auch emotional wahrnehmen. Dadurch entwickelt sich mehr Spielfreude und ein größerer emotionaler Ausdruck beim Musizieren. Und darum geht es ja wohl bei der Musik.


Durch das Ausbleiben von negativen Umschulungsfolgen (blockierte Atmung, Verkrampfungen und Probleme beim Spielen nach Noten) ist das händigkeitsgerechte Musizieren meiner Gesundheit zuträglich. Freude am Musizieren geht nicht mehr mit körperlich spürbaren Problemen einher.


Und drittens ergeben sich bessere spieltechnische Fertigkeiten, wenn man MIT und nicht GEGEN den eigenen Körper arbeitet.


Auch hierzu wieder eine Schlussfolgerung von Judith Bremer:

„Wenn Musikerinnen und Musiker entsprechend ihrer natürlichen Händigkeit mit voller Emotionalität musizieren, dürfte das Klangerlebnis eine besondere Qualität haben.“


 


Im zweiten Teil meines Vortrages präsentierte ich die Grundzüge meines Konzeptes für eine händigkeitsgerechte Musikerziehung:





  • Die musikschulinterne Verwaltung erfasst bei der Anmeldung die Händigkeit der Schülerinnen und Schüler und berät über geeignete Instrumente und Lehrkräfte.


  • Lehrkräfte haben Kenntnisse über die Bedeutung der Händigkeit sowie über die Folgen vom Musizieren gegen die natürliche Händigkeit und können dahingehend beraten.


  • Händigkeitsgerechte Methoden verwenden neutrale Handsätze sowie Funktionsbegriffe für die Hände. Sie berücksichtigen alle möglichen Kombinationen von Hirndominanz,

    Handgebrauch und Fußgebrauch.


  • Sie verwenden wenn nötig gespiegelte Unterrichtsanordnungen.


  • Händigkeitsgerechte Musikschulen verfügen über Linkshänderinstrumente aller Art

    in verschiedenen Größen und/oder können über Bezugsquellen informieren.


 


Im letzten Teil der Veranstaltung bat ich die Teilnehmenden in einen Stuhlkreis und verteilte Djemben (Handtrommeln) an alle.


Mit ein paar Trommelübungen wollte ich ein Gefühl für die Bedeutung der Führungshand beim Trommeln vermitteln. In der Kreisaufstellung konnte ich auch nochmal veranschaulichen, wie Rechtshändige mein Spielen „spiegeln“ können und wie Linkshändige seitlich zu mir schauen.


Anschließend verteilte ich einige Kleinperkussionsinstrumente, bei denen es immer eine Haltehand gibt, wie Triangel, Klanghölzer und Guiro.


All diese Instrumente eignen sich gut, um in der Gruppe Beobachtungen zum bevorzugten Handgebrauch zu machen. Vor allem bei Kindern, die Erstkontakt zu diesen Instrumenten haben, lassen sich interessante Beobachtungen machen.


Es gab noch eine Linkshänder-Geige zum Ausprobieren sowie zwei Gitarren und ein E-Piano mit gespiegelter Tastatur. Wir hatten zwei E-Pianos Stirn an Stirn zusammengestellt, um eine mögliche

Unterrichtsanordnung zu demonstrieren.

Das „gespiegelte“ E-Piano übte große Faszination aus und die linke Violine ging durch viele Hände.


Nach einiger Zeit des Ausprobierens begaben wir uns in die Abschlussrunde. Einige der Teilnehmenden erklärten, nichts von den Umschulungsfolgen gewusst zu haben.

Ich schilderte nochmal, was meiner Ansicht nach passieren müsste, um die Situation der Linkshändigen an Musikschulen zu verbessern:

Es müssten überhaupt erstmal linkshändige Menschen wahrgenommen werden und die Linkshändigkeit als persönliches Merkmal erfasst werden (z. B. in den Anmeldeformularen der Musikschulen).

Iris Meyer, Bildungsreferentin des VdM-Landesverbands Schleswig-Holstein, schloss die Veranstaltung, bedankte sich für die interessante Fortbildung und prophezeite, dass schon die Änderung der Anmeldeformulare schwierig werden wird, wo ja deutlich geworden ist, was alles an diesem Thema dranhängt.


 


Resümee


Es waren sehr interessierte und aufgeschlossene Menschen zu dieser Veranstaltung gekommen, wodurch äußerst konstruktive und interessante Gespräche zustande kamen.

Zwei der Teilnehmenden hatten einen sehr weiten Weg in Kauf genommen, woraus ich eine gewisse Relevanz der Thematik ablese.


Der erste Vortragsteil von Judith Bremer war deshalb so wichtig, weil kaum Vorkenntnisse über die Umschulungsfolgen bei falschem Handgebrauch vorhanden waren.


Obwohl wir ganz bewusst das Thema der „unerkannten Linkshändigkeit“ ausgeklammert haben, uns also nur die Gruppe der Schülerinnen und Schüler angeschaut haben, die wissentlich linkshändig sind, ist das gewählte Thema der Fortbildung sehr komplex.


Und obwohl ganz klar ist, wie es sein sollte (siehe Leitbild des VdM), ist die Realität in den Musikschulen und die dort herrschende Unkenntnis über die Umschulungsfolgen beim Lernen eines Instruments für Linkshändige so konträr zum eigenen Anspruch, dass es wehtut.


Insgesamt war der Fortbildungsworkshop, auf den ich über ein Jahr lang hingearbeitet habe, erst ein Anfang – aber ein guter!




Grafik: Peer Oehlschlägel







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