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AutorenbildKaroline Renner

Artikel: Verkehrte Flöten im Orchester?

Ein Plädoyer für die andere Hälfte am Beispiel der Querflöte. Von Karoline Renner

Zuerst erschienen in: das Orchester 11/2020, S. 20-23. Mit Genehmigung der SCHOTT MUSIC GmbH & Co. KG, Mainz


Verkehrte Flöten im Orchester? Ein Plädoyer für die andere Hälfte am Beispiel der Querflöte. Von Karoline Renner. Wie selbstverständlich lernen und musizieren Linkshänder auf Querflöten für Rechtshänder. Dabei spricht vieles dafür, dass Linkshänderflöten in den meisten Fällen besser und „richtiger“ für sie sind. Es ist an der Zeit, entsprechende empirische Erkenntnisse mit den Methoden der Neurowissenschaft und Psychologie zu untersuchen.   Prävention stellt die Basis für einen gesunden künstlerischen Werdegang dar. Es hat sich herumgesprochen, dass rechtzeitiges Eingreifen und Trainieren zu mehr Wohlbefinden und besseren Leistungen führt. Auch liegt es im Interesse aller, wenn Fehlentwicklungen sich nicht zu Verspannungen, Schmerzen, Burnout oder gar Berufsunfähigkeit ausweiten. Zu Recht wird von Musikmedizinern die mangelnde Vorbeugung und Betreuung, zum Beispiel durch Physiotherapeuten, bemängelt.  Was aber ist zu tun, wenn das Instrument an sich die Ursache ist, weil es seitenverkehrt ist? Wenn alle Probleme nur darin bestünden, dass man gerne jeder Hand die Aufgabe gäbe, die sie am besten bewältigen

kann? Beginnen wir mit der Richtung, in der die „Querflöte“ gehalten wird. Meine linkshändigen Probanden haben mir alle berichtet, dass es für sie am natürlichsten ist, das Instrument auf die linke Seite zu nehmen. An dieser Bewegung sind beide Hände beteiligt, allerdings führt die linke Hand auf ihre bevorzugte Seite. Flötisten nutzen neun Finger, um die Klappen zu betätigen. Nur ein einziger Finger ist kein Spielfinger: der Daumen, bei Rechtshänderflöten der rechte. Und seine Funktion beim Spielen der Flöte ist eine Hauptquelle mehrerer Probleme. Technisch gesehen hat er die Aufgabe, das Instrument zu balancieren. Ich sage mit Absicht nicht, dass er die Flöte „halten“ muss. Er muss das Instrument sowohl gegen die Schwerkraft stabilisieren als auch die Kipprichtung der Klappenmechanik, vor allem gegen die Lippen nach innen, ausgleichen. Das bedeutet, dass der Daumen sehr subtil auf die jeweiligen Griffveränderungen und Tongebungen reagieren muss. Gleichzeitig muss er immer für Stabilität sorgen, damit der Flötistin nicht die Flöte verrutscht, der Flötist die Kontrolle über die Finger behält.   Stabilität und Sicherheit Anatomisch gesehen hat dieser Daumen die hochdifferenzierte Aufgabe, die Hand so zu stabilisieren, dass die anderen vier Spielfinger sich frei, leicht, schnell und präzise bewegen können. Das tut er gemeinsam mit dem kleinen Finger. Wie jeder Instrumentalpädagoge weiß, behindert ein fester Daumen, ein Daumen, der „hält“, auch alle anderen Finger seiner Hand in ihrer Beweglichkeit. Ein kollabiertes Daumengrundgelenk, wenn also der Daumen durchgedrückt ist, verschließt die Handfläche und versteift den kleinen Finger. Der Daumen muss also von seiner gewohnten Aufgabe als grobmotorischer Repräsentant der gegenseitigen Hand (Stichwort: Handdominanz) zum feinmotorisch gebrauchten Finger werden. Das muss natürlich auch der Daumen der linken Hand. Darin zeigt sich jedoch bereits der Hauptunterschied, denn der Daumen der linken Hand ist bei der üblichen Querflöte „lediglich“ ein Spielfinger, während, wie eben aufgezeigt, der Daumen der rechten Hand entscheidend für die Stabilität der Flöte und zugleich der freien Bewegungen der Finger ist. Meine Beobachtung ist, dass dieses Aufgabe für den Daumen der bevorzugten, dominant entwickelten Hand wesentlich leichter zu bewältigen ist.  Ein Aspekt dabei, der meiner Meinung nach nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, ist der der Sicherheit. Sicherheit ist ein Gefühl, das nicht nur auf der Bühne entscheidend ist. Es lässt einen Musiker seine Ausdruckskraft frei entfalten, einen Menschen seine Persönlichkeit entwickeln und dies durch Musik hörbar machen. Unsicherheit muss immer auf irgendeine Weise kompensiert werden. Wäre es möglich, dass Stresssymptome und Ängste, vor allem bei angehenden Profimusiker, manchmal einfach nur durch ein Instrument der falschen Seite begründet sind? Bisher hat sich meines Wissens niemand ernsthaft dieser Frage angenommen und sie wissenschaftlich angemessen untersucht. Warum? Meine Anfragen in dieser Richtung wurden von Musikermedizinern und auch teilweise von Betroffenen mit der Feststellung beantwortet, dass beim Flötespielen ja ohnehin beide Hände gebraucht würden und der Unterschied zwischen einem Links- und einem Rechtshänderinstrument daher zu vernachlässigen sei. Man kann argumentieren, dass durch genügend Übung und Talent der Unterschied für Linkshänder auf der Rechtshänderflöte ausgeglichen wird. Es gibt ja schließlich Linkshänder (es wäre wert, dies tatsächlich einmal in Zahlen zu erheben), die professionelle Flötisten auf herkömmlichen Flöten geworden sind.  Linkshänder wählen LInkshänderflöten Auch moderne Flötenschulen erwähnen diese Thematik nicht, obwohl es doch sowohl historische Linksquerflöten gibt als auch moderne Instrumente der Firma Viento sowie diverse Einzelanfertigungen. Lediglich Hanns Wurz erwähnt in seiner Querflötenkunde: „Eine meiner Studentinnen, eine Linkshänderin, erzählte mir, sie habe als Anfängerin unwillkürlich das rechte Bein vorgestellt; als ihr Lehrer darauf bestanden habe, daß sie das linke vorstelle, sei ihr das sehr schwergefallen. Hat sich der Lehrer richtig verhalten? Wohl kaum: Grundschullehrer wissen heute, daß es zu schweren Entwicklungsstörungen führen kann, wenn man einen echten Linkshänder zwingt, rechts zu schreiben.“ Seit ich 2013 meine Viento-Linkshänderflöte gekauft habe, habe ich sie in meinen Kursen sowohl Flötisten als auch – und das ist hier interessanter – Nichtflötisten in die Hand gegeben. Ich lege beide Flöten beide Flöten nicht quer, sondern längs vor die Person, erkläre, dass eine Querflöte seitlich gespielt wird und bitte, beide Instrumente in ungefähre Spielposition zu nehmen. Seit Sommer 2018 nehme ich die Kommentare dazu auf. Ansnahmslos alle Linkshänder, die mit der rechten Hand schreiben, können sich nicht so klar entscheiden. Für sie kommen beide Flöten in Frage. Dabei habe ich bemerkt, das sie eher die „normale“ Flöte wählen würden, weil sie das bei andern so zu sehen gewohnt sind. Ein Argument gegen die Linkshänderflöte lautet, dass sie auffallen würde. „Wie stellst du dir das denn im Orchester vor? Wie sieht das aus, wenn der eine in die und der andere in die andere Richtung spielt!“, höre ich von Orchesterkollegen und Hochschulprofessorinnen, und: „Wir haben jetzt schon zu wenig Platz im Proberaum/im Orchestergraben/auf dem Podium!“ Das ist richtig. In einem Berufsfeld, das so extrem hierarchisch organisiert ist wie ein Orchester, müssen individuelle Ansprüche wohlüberlegt ins große Ganze eingeordnet werden. Ein Orchester muss akustisch eine Einheit sein. Wie weit muss es das auch optisch? Was ist, wenn ein wenig mehr Offenheit und die Bereitschaft, Ungewohntes zuzulassen, zu mehr Klangschönheit führen? Was wäre, wenn jeder einzelne sich an seinem Platz richtig wohl fühlte, weil er so sein dürfte, wie er ist, und damit zufriedener und vielleicht auch gesünder wäre? Das Gefühl von Richtigkeit Meine Erfahrungen aus über zwei Jahrzehnten Flötenunterricht mit Linkshändern aller Leistungsniveaus, vom Laien über Studenten bis zum Profi, zeigen mir, dass sie sich alle auf der Rechtshänderflöte zurechtfinden. Das ist bei meinen Überlegungen aber nicht das Ausschlaggebende. Es geht mir auch nicht darum, zu postulieren, dass alle Linkshänder mit der Linkshänderflöte spielen müssen, damit seien alle Probleme gelöst und sie würden bessere Musiker.

Was ich erlebe, ist, dass Linkshänder einen wesentlich höheren Aufwand betreiben müssen, um auf der Rechtshänderflöte zurechtzukommen. Sie sind zeitlebens auf der Suche nach einem ganz bestimmten Gefühl der Richtigkeit für sich selbst, ganz besonders in „Bühnenmomenten“, in denen sie sich für ein Publikum oder eine Jury durch ihr Instrument ausdrücken und „zeigen“ wollen. Es ist nicht leicht, diese Gefühle von Richtigkeit bewusst wahrnehmen und ausdrücken zu können. Wie berührend das ist, schildert eine linkshändig schreibende Flötenstudentin, die bei einem meiner Kurse die Linkshänderflöte ausprobierte: „Ich spiele nun seit über zehn Jahren auf einem ‚normalen‘ Flöte und dachte, dass ich mich so daran gewöhnt hätte, dass die Linkshänderflöte sehr komisch und ungewohnt sein würde. Als ich die L-Flöte zum ersten Mal in die Hand nahm, war es sehr natürlich – viel natürlicher als die R-Flöte. Mir kamen die Tränen, da ich plötzlich vieles verstand und vieles selbstverständlich war, was mir meine Lehrerin schon länger zu erklären versuchte (die Verteilung des Gewichtes der Flöte). Ich hätte nie mit einer so emotionalen Reaktion meinerseits gerechnet. Einerseits fühlte ich mich verstanden, andererseits machte es mich auch wütend. Ich habe die Nachteile plötzlich gespürt und es wurde mir deutlich, dass es einen großen Unterschied zwischen Links- und Rechtshändern gibt.“ Die Studentin ist kein Einzelfall, was die Intensität der Gefühle anbelangt. Etwa ein Viertel der Teilnehmenden meiner Flötenkurse sind linkshändig. Da es sich um Flötisten handelt, die sich längst auf herkömmlichen Instrumenten zurechtgefunden haben, ist die andere Flöte sehr ungewohnt für alle. Die Reaktionen der Rechtshänder sind auf der Stelle abweisend („fürchterlich“, „wozu das denn?!“). Nicht viele Linkshänder reagieren so offen wie die oben zitierte Flötistin, aber alle sind fasziniert von diesem Instrument, auch wenn sie es zunächst als sehr ungewohnt empfinden.  Suche nach der besten Haltung Wie bereits beschrieben, hat der dominante Daumen die Aufgabe, die Flöte zu stabilisieren. Die Selbstverständlichkeit, mit der er das „kann“, beschreibt die Flötistin so: „Die Gewichtsverteilung (mehr Gewicht auf dem linken Daumen, praktisch kein Gewicht auf dem rechten) war logisch und selbstverständlich. Schwierig war die Positionierung der Finger auf den richtigen Klappen. Ich dachte aber, dass ich durch das jahrelange Spielen auf meiner R-Flöte daran gewohnt sein würde und mir die L-Flöte nicht passen würde. Wie würde es in einer Linkshänderwelt sein?“ Auf dem Weg zu professionellen Flötistin werden sehr viel Zeit und Mühe auf das Erlernen der besten Haltung verwendet und dies bleibt, wie bei allen asymmetrisch positionierten Instrumenten, lebenslanges Thema. Dadurch, dass das Instrument quer zum Körper in Spielposition gebracht wird, muss eine Rotation in der Wirbelsäule erfolgen. Als Ausgleich, um Schultern und Rumpf nicht verschrauben zu müssen, wendet der Flötist sich vom Kopf bis zu den Füßen leicht nach links. Damit ist die Gewichtsverteilung des Körpers leicht auf den linken Fuß verschoben. Bei der Linkshänderflöte ist es genau anders herum. Das andere Raumgefühl, das dadurch entsteht, war bei einigen Probanden ein entscheidender Grund, sich für die eine oder andere Richtung zu entscheiden. Die Flötistin beschreibt es so: „Zusätzlich war die umgekehrte Fußposition sehr natürlich und musste nicht gelernt werden. Spannend war, dass ich das Gefühl der Gewichtsverteilung von L speichern konnte und nach einmaligem Halten schon auf die R-Flöte übertragen konnte. Dies war sehr einfach und ein Gefühl, welches meiner Meinung nach meine Lehrerin oder sonst jemand nie mit Worten hätte erklären können.“  Folgenschweres Umlernen Ich denke, dass nun zweierlei klar geworden ist. Erstens, dass an das Thema der „Flötenseitigkeit“ herangegangen werden

sollte, da es manche Betroffene viel tiefer berührt, als dass es als spielerische Abwechslung, üädagogische Variante oder Ausgleichstraining verstanden werden kann. Zweitens, dass es nicht darum gehen kann zu glauben, dass mit der Wahl des seitenrichtigen Instruments alle Probleme gelöst sind. Mir geht es hier darum, aufzuzeigen, dass es einen Unterschied gibt. Ich wünsche mir, dass im großen Feld der Musikermedizin Psychologen und Neurowissenschaftlerinnen auf den Missstand der ignorierten Händigkeit und demnach falschen „Werkzeuge“ aufmerksam werden und wissenschaftliche Versuchsanordnungen und Befragungen durchführen, die vor allem das innere Sicherheitsgefühl messen. Der Zugang zu den Unterschieden findet auf kinästhetischer Basis statt. Das wird mit „Gefühl“ beschrieben. Ich denke, dass dieser Umstand viel dazu beiträgt, dass die Thematik bisher nicht weiter erforscht wurde. Musiker sind wie Sportlerinnen sehr von ihrem Körper abhängig. Die Kombination von erlernten Haltungs- und Bewegungsabfolgen mit dem Gehörten, dem Klangprodukt als, bestimmt die Qualität der musikalischen Ausführung. Daraus kann man leicht verstehen, wie wichtig das eigene Gefühl und das Befinden des Körpers ist. Mittlerweile ist es hinreichend bekannt, was die Folgen des Umlernens der nichtdominanten Hand zur Schreibhand sind. Das Schreiben steht dabei stellvertretend für feinmotorische Ausdrucksmöglichkeiten. „Es sind vorzugsweise gerade die Bewegungen, die man äußerst präzis durchzuführen beabsichtigt, bei denen man dann die meisten Koordinationsschieirigkeiten bekommt.“ Es ist vielfach bewiesen, dass Linkshänder dieselbe technische Perfektion wie Rechtshänder erlange können. Nur ist zu fragen, welchen energetischen emotionalen und zeitlichen Mehraufwand zu Lasten welcher Qualitäten – Wohlbefinden, Sicherheit, Ausdauer, Kraft, Aufmerksamkeit, Empathie, Flow – sie dafür leisten müssen. Und dies nicht nur beim Erlernen des Instruments, sondern auch bei jeder einzelnen der millinonenfachen Ausführungen unter den spezifischen mikroproportionalen Bedingungen der Flöte.  Flöten in beide Richtungen Ich habe hier dargestellt, dass es für das Spielen der Querflöte wesentliche Unterschiede in den Aufgaben beider Hände und in der Raumrichtung des Körpers gibt. Ich finde keineswegs, dass die Forschung an dieser Stelle bereits abgeschlossen ist. Im Gegenteil wünsche ich mir, dass meine empirischen Erkenntnisse mit den Methoden der Neurowissenschaft und Psychologie objektiviert oder falsifiziert werden. Sollte sich herausstellen, dass die Ergebnisse bedeutsam sind, müsste ein Umdenken in den Musikschulen, Universitäten und Orchestern stattfinden. Es war schließlich auch anfangs (und ist es leider mancherorts immer noch) ungewohnt, Menschen zu sehen, die mit der linken Hand schreiben. „So wird bei solistisch gespielten Instrumenten oder solchen, die auch in der nichtklassischen Musik eingesetzt werden, ein Linksspielen meist toleriert. Bei Streichinstrumenten und bei der Querflöte dagegen, deren Spielweise von einer klassischen Musikkultur geprägt ist, findet die linkshändige Spielweise bisher wenig Anerkennung. Als Haupteinwand wird angeführt, dass junge Musikerinnen auf einem Linkshänderinstrument das Musizieren nicht zum Beruf machen können, da die Mitwirkung in einem Orchester nicht möglich sei“. Gerade im künstlerischen Bereich einer Gesellschaft, der Offenheit und Aufgeschlossenheit Neuem gegenüber zu repräsentieren hat, sollte es möglich sein, dass Menschen bei der Auswahl ihrer Musikinstrumente frei sind. Ich freue mich darauf, dass die erste Flötengruppe der Welt in einem klassischen Sinfonieorchester auch optisch durch Flöten heraussticht, die in beiden Richtungen gespielt werden.

Karoline Renner ist professionelle Orchesterflötistin der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz, Lehrbeauftragte am Mozarteum Salzburg, Dispokinetikerin und Rechtshänderin.



 



Titelbild des Blogposts: Alexander Englert


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